04.09.2023
Wie inklusiv ist Deutschland?

Mit dieser Frage befasste sich der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen am 29. und 30. August in Genf. Deutschland wurde - nach 2015 – erneut vom Ausschuss geprüft, inwiefern es die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) umgesetzt hat.

Inzwischen liegt der kombinierte zweite und dritte Berichtszyklus vor. Darin musste Deutschland über den Stand der Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen Rechenschaft ablegen. Der deutsche Staatenbericht wurde bereits im Juli 2019 vom Bundeskabinett verabschiedet und im September 2019 dem UN-Fachausschuss übermittelt. Geprüft wurde der Zeitraum von 2018 bis 2023.

Der Dialog („Constructive Dialogue“) zwischen Deutschland und dem Ausschuss fand nun am 29./30. August 2023 in Genf statt. Die deutsche Delegation bestand dabei aus Vertreter*innen der Bundesregierung, der Kultusministerkonferenz der Länder sowie dem Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen und der Beauftragten der Hessischen Landesregierung für Menschen mit Behinderungen. Die Delegation musste sich dabei den kritischen Fragen der achtzehn Mitglieder des UN-Fachausschusses und der beim Deutschen Institut für Menschenrechte angesiedelten Monitoring-Stelle UN-BRK stellen. Anwesend waren zudem auch Selbstvertretungsorganisationen der Menschen mit Behinderungen. 

Den Abschluss des Staatenprüfverfahrens bildet die Veröffentlichung der „Abschließenden Bemerkungen“ durch den Ausschuss. In diesen wird er Empfehlungen und Forderungen an die Bundesregierung richten, wie die UN-BRK in Deutschland besser umgesetzt werden muss. Die Veröffentlichung der „Abschließenden Bemerkungen“ werden für Ende September 2023 erwartet.
 

Rückblick von Prof. Dr. Sigrid Arnade

Die Leiterin der deutschen zivilgesellschaftlichen Delegation und Vorsitzende des Sprecher*innenrates des Deutschen Behindertenrats (DBR), Prof. Dr. Sigrid Arnade, bewertete den Dialog am 29. und 30. August wie folgt: „Die Ausschussmitglieder haben sehr gute pointierte Fragen gestellt und eine deutliche menschenrechtlich fundierte Position bezogen, wenn Mitglieder der deutschen Regierungsdelegation mit einer anderen Sichtweise argumentierten. So konstatierten die Ausschussmitglieder, dass es hier nicht um unterschiedliche „Sichtweisen“, sondern um eindeutige menschenrechtliche Vorgaben geht, zu deren Umsetzung sich Deutschland verpflichtet hat. Die Ausschussmitglieder kritisierten insbesondere die deutschen Exklusionsstrukturen in der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt, beim Wohnen sowie die Anwendung von Zwang gegenüber Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen.“ 

Auch der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, äußerte sich – so Arnade weiter - kritisch und benannte neben den Problembereichen der Bildung und des Arbeitsmarktes auch die mangelnde Barrierefreiheit beispielsweise bei Arztpraxen. 

Abschließend sagte Arnade: „Jetzt sehe ich mit Spannung den „Abschließenden Bemerkungen“ als Ergebnis der Staatenprüfung entgegen. Wenn diese eine ähnliche Stringenz und Klarheit aufweisen, wie die Fragen der Ausschussmitglieder, wovon ich ausgehe, dann bekommen wir ein starkes Werkzeug in die Hand, um die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention einzufordern. Den Regierungen von Bund und Ländern rate ich, endlich die Menschenrechte ernst zu nehmen.“ 
 

Parallelberichte zeigen Nachholbedarf bei Umsetzung der UN-BRK

"Menschenrechte jetzt!", so heißt der Parallelbericht zur Umsetzung der UN-BRK, den das zivilgesellschaftliche Bündnis deutscher Nichtregierungsorganisationen am 15. August 2023 veröffentlicht hat. Dem Bündnis gehören 37 Organisationen an. Koordiniert wird es vom Deutschen Behindertenrat (DBR).

Hierin heißt es: „Deutschland ist noch weit von einer umfassenden Umsetzung der UN-BRK entfernt. Nach wie vor ist Exklusion statt Inklusion für behinderte Menschen an der Tagesordnung. Zudem werden private Anbieter von Waren und Dienstleistungen immer noch nicht durchgehend zur Barrierefreiheit und zu angemessenen Vorkehrungen verpflichtet; an einer umfassenden Gewaltschutzstrategie zum Schutz von behinderten Mädchen und Frauen fehlt es ebenso, und selbst die schon lange geforderten Partizipationsstandards sind nicht in Sicht.“

Auch die Monitoring-Stelle hat im Vorfeld zur Anhörung seinen Parallelbericht veröffentlicht. Bemängelt wird unter anderem das Festhalten an aussondernden Strukturen: „Die Dynamik der Umsetzung hat jedoch in Bund, Ländern und Kommunen inzwischen deutlich nachgelassen und in der Abwägung unterschiedlicher politischer Prioritäten hat die Konvention spürbar an Gewicht verloren. Ein echter Paradigmenwechsel in Politik und Gesellschaft hin zu Inklusion und Selbstbestimmung ist auch 14 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK nicht festzustellen. Im Gegenteil: In Deutschland besteht weiterhin ein stark ausgebautes System von Sonderstrukturen – sowohl in der schulischen Bildung und bei der Beschäftigung in Werkstätten als auch in Form von großen stationären Wohneinrichtungen. Zwar wird viel über Inklusion diskutiert, konsequent in die Tat umgesetzt wird sie allerdings nicht.“

Mit Sorge beobachte man „eine fehlgeleitete Inklusionsrhetorik, wonach unterschiedliche Akteure aus Politik und Gesellschaft Sonderstrukturen als Teil eines inklusiven Systems bezeichnen.“ Ein weiteres Problem bestehe darin, dass „in vielen Bereichen Menschen mit Behinderungen und ihre Bedarfe nach wie vor kaum oder gar nicht mitgedacht werden. Es fehlt ein durchgängiges Bewusstsein für Barrierefreiheit als Grundvoraussetzung einer gleichberechtigten Teilhabe (siehe beispielsweise Artikel 9: Produkte und Dienstleistungen, Wohnungsbau; Artikel 11: Katastrophenschutz; Artikel 18: geflüchtete Menschen mit Behinderungen; Artikel 25: Barrierefreiheit von Arztpraxen; Artikel 30: kulturelle Teilhabe). Probleme, wie etwa fehlende diskriminierungsrechtliche Verpflichtungen zu Barrierefreiheit im privaten Sektor, sind zwar seit langem bekannt, werden aber politisch nicht bearbeitet (Artikel 5: gesetzlicher Diskriminierungsschutz). Hier fehlt es an der notwendigen menschenrechtlich gebotenen politischen Priorisierung.“

Die Partizipation von Menschen mit Behinderungen und ihren Organisationen finde laut der Monitoring-Stelle zwar regelmäßig statt, aber „nicht immer in geeigneten und sinnstiftenden Formaten und auch nicht in allen Politikbereichen.“

Eine Gruppe von Demonstrierenden mit und ohne sichtbare Behinderung. Im Vordergrund ein pinkes Schild mit der Aufschrift "Menschenrechte jetzt!".
© Deutscher Behindertenrat